Warum die dunklen Kanäle mehr als Abwasser sind
Rundbögen aus Backsteinen. Elegante Kapitälchen. Geschwungene Decken. Architektonische Elemente, die aus einer Kirche stammen könnten. Selbst wenn sie sich unter der Stadt Düsseldorf befinden und nicht oberhalb. Wie sakrale Gemäuer strecken sie sich dem Himmel entgegen, dabei beginnt hier die Unterwelt, die man nur bei einer Führung im Besucherkanal der Stadt Düsseldorf erleben kann.
Das beginnt schon mit dem Abstieg die schmale Wendeltreppe hinunter. Birgit Bremmenkamp, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Stadtentwässerungsbetriebe Düsseldorf, geht sicheren Schrittes voran. Jeder, der ihr in den Untergrund folgt, ist mit einer Taschenlampe bewaffnet. Selbst wenn die Kanalisation hier nur wenige Meter vom Tageslicht entfernt beginnt, ist es im Kanal stockdunkel. Daran kann auch das diffuse Eingangslicht nichts ändern. Hier betritt man eine Welt, die die Zeit vergessen hat. Man fühlt sich wie in einem Horrorfilm, wenn man auf der Empore vor dem jetzt leeren Kanalbett steht. Links und rechts geht es in dunkle Tunnel, die alles Licht verschlucken. Ohne eine Ahnung, was in ihnen auf Besucher wartet. „Hier sind auch schon Kinofilme gedreht worden und natürlich Serien: Alarm für Cobra 11, SK Kölsch, aber auch Verbotene Liebe“, erzählt Bremmenkamp.
Der stillgelegte Kanal wäre auch heute eigentlich noch funktionstüchtig. Allerdings wird er nicht mehr benötigt, denn die alte Kläranlage in Golzheim, die Mitte der 60er Jahre gebaut wurde, ist mittlerweile nicht mehr in Betrieb. Die modernen Kläranlagen in Hamm und Meerbusch-Ilverich haben längst diese Arbeit übernommen. Denn heute sind chemisch-biologische Kläranlagen der Standard, allein schon wegen der Haushaltsreiniger, deren Wirkstoffe dem Wasser aufwendig entzogen werden müssen. Statt den nun nicht mehr benötigten Kanal der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, haben die Stadtentwässerungsbetriebe sich etwas Besseres überlegt. Im Besucherkanal können Düsseldorfer hier nicht nur hautnah erleben, wie Entwässerung funktioniert, sondern auch die besondere Atmosphäre hier unten erleben. Wenn Birgit Bremmenkamp durch den Kanal führt und seine Besonderheiten erklärt, lauscht jeder aufmerksam. Nicht nur wegen der spannenden Geschichten, sondern auch der ungewohnten Stille. Dem Hall von Schritten und Tropfen, die von der Decke fallen. Hier und da das Rascheln von einem Tier in einem Büschel Laub, das durch den Gullydeckel fiel. Und sogar das Singen der Vögel dringt von der Oberfläche nach hier unten. Hört sich an diesem Ort aber unwirklich an. Insbesondere, wenn mitten im Kanal die Taschenlampen ausgeschaltet werden, und kein Tageslicht mehr zu den Besuchern dringt. Eine so vollkommene Dunkelheit erlebt man in einer Großstadt auch mitten in der Nacht nie. Und tatsächlich wird dann auch hartgesottenen Zeitgenossen mulmig. Selbst wenn jeder weiß: Hier kann nichts passieren. Denn der Besucherkanal wird durch zwei Tore begrenzt, sodass keine Gruselgestalten sich durch längst vergessene Tunnel nähern können. Die Erleichterung ist dennoch ersichtlich, als die Lichter wieder angehen und der Gang durch die Tiefe fortgesetzt wird. 200 Meter geht es durch den „Bauch von Düsseldorf“. Aber die Strecke erscheint länger, denn überall gibt es im Licht der Taschenlampe etwas zu entdecken. Ein Spinnennetz, surrealistisch anmutende Pilze, Wurzeln, die aus Zugängen von oben wachsen und zugemauerte Tunnel.
Kaum zu glauben: Obwohl es bereits in der Antike funktionierende Kanalisationssysteme gab, ging dieses Wissen vielerorts im Mittelalter verloren. Auch Düsseldorf sah sich mit der Industrialisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts neuen Herausforderungen gegenüber. Ab 1826 gab es einen Bevölkerungszuwachs von 44.000 neuen Mitbürgern, die die Stadt schnell auf das Doppelte wachsen ließen. Die Trinkwasserversorgung und insbesondere die Abwassersituation nahmen schnell bedenkliche Züge an. 1868 beauftragte Oberbürgermeister Ludwig Hammers dann den britischen Ingenieur William Lindley mit dem Bau einer Kanalisation nach Plänen von Stadtbaumeister Schneider. In Großbritannien war die Entwicklung von Abwassersystemen wegweisend und Lindley hatte sich bereits durch den Bau von Entwässerungssystemen für Hamburg einen Namen gemacht. Er sagte zu, die Kanalisationsanlagen für 200 Pfund Sterling zu planen. Eine Summe, die heute etwa 170.000 Euro entspricht. Nach Beginn der Bauarbeiten im Jahr 1874 wurde der Kanalbau vier Jahre später aus Geldmangel zunächst eingestellt und erst 1884 wieder aufgenommen. Die ältesten Kanäle in Düsseldorf stammen demnach von 1874 und sind zum Teil heute noch in Betrieb. Die erste Kläranlage hingegen wurde erst 1903 gebaut. Bis dahin wurden die Abwässer einfach aus der Stadt geleitet. Auch das erste Klärwerk funktionierte einfach mechanisch mit dem Einsatz von Rechen und unterscheidet sich stark von den heute eingesetzten chemischen Verfahren.
Jetzt wissen Sie, wo das Abwasser hingeht. Aber wie kommt das Trinkwasser eigentlich in Ihren Hahn? Und welche Qualität hat es in Düsseldorf?
Es gibt in Düsseldorf viele alte Kanäle, die aber absolut noch intakt sind. Der älteste ist aus dem Jahr 1874. Birgit Bremmenkamp, Stadtentwässerungsbetriebe Düsseldorf
Auch wenn heute neue Kanäle mit Kunststoffauskleidung gebaut werden, die weniger Probleme mit Korrosion haben, basiert das System in Düsseldorf immer noch auf der von Lindley angelegten Schwemmkanalisation. „Wir haben insgesamt 1.550 Kilometer Kanalnetz in Düsseldorf. Das entspricht in etwa der Entfernung von Düsseldorf nach Rom“, erklärt Birgit Bremmenkamp, während sie die alten Backsteine mit ihrer Taschenlampe beleuchtet. Hier unten wird die Geschichte der Kanalisation plötzlich viel greifbarer und spannender. Auch wie wichtig ein funktionierendes Abwassersystem für eine Großstadt ist. Denn ohne Kanalisation würde das Grundwasser zum Beispiel mit Krankheitserregern verseucht und Epidemien wie noch vor 200 Jahren wären möglich.
Wer denkt, in dem stillgelegten Kanal wäre alles tot, der irrt sich. Leben findet immer einen Weg. Von so einfachen Kreaturen wie Pilzen und Schnecken bis hin zu Kröten trifft man hier unten immer wieder Lebewesen. Und diese Tiere gehören hier hin, auch wenn es nicht so scheint. Sie finden hier unten Nahrung. Auch Pflanzen haben ihren Weg gefunden. Aus einem Abwasserrohr dringt Wurzelgeflecht bis hier unten vor. „Pflanzen sind sehr intelligent. Die wissen, wo es was zu trinken gibt.“ Tatsächlich suchen sich an vielen Stellen Wurzeln Zugang zu den Pfützen, die sich am Kanalboden immer wieder ansammeln. Weswegen die Besucher im halbrunden Kanal vorsichtig gehen, um nicht auszurutschen. Aber auch etwas Neues gibt es immer wieder zu entdecken. Wassertropfen, die sich an der Decke sammeln. Netze aus weißen Pilzen, die fast unwirklich wirken. Und auch kleine grüne Pflänzchen, die aus angeschwemmtem Laub und Erde ihr Blattwerk ausstrecken. Diese Pflanzen gab es hier noch nicht, als 2002 die erste Führung angeboten wurde. Kleinste Lichtquellen durch die Gullydeckel scheinen diesem Grün neuerdings Leben einzuhauchen.
Irgendwann geht es wieder nach oben und das Tageslicht blendet und wirkt jetzt selbst etwas unwirklich. Die Wendeltreppe endet in einem kleinen, unscheinbaren Pavillon, wie er in jedem Garten stehen könnte. Nichts verrät, dass hier das Tor zur Unterwelt liegt. Ein paar Meter weiter liegt die Ausstellung, die den Startpunkt zur Reise markiert. Hier werden die Taschenlampen wieder abgegeben und ein letzter Blick auf Bilder aus dem Kanal geworfen. Auf alte Stadtpläne, ein Wartungsfahrzeug und Infomaterial, das die mystische Stimmung des Kanals mit harten Fakten untermauert. Ganz lässt der Kanal noch niemanden los. Eine Erfahrung, die man nicht jeden Tag macht. Und die jeden, der die Führung mitgemacht hat, anders über die Kanalisation und die Welt direkt unter uns nachdenken lässt.
… welchen Weg das Abwasser nimmt. Aber wie ist eigentlich der Weg unseres Trinkwassers?
Lesen Sie das in unserem Artikel: Der längste Zapfhahn der Stadt.
Doris Dreßler • 29. November 2024
Joachim Gerloff • 29. November 2024